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Ruien-Besichtigung am 26. Januar 2013

 

 

Als die Einwohnerzahl in Antwerpen im 11. Jahrhundert explodierte und sich immer mehr Bürger ausserhalb der Schutzumwallung niederliessen, wurde dies für die Stadtoberen zu einem Problem. Um auch den "Vorsassen" eine gewisse Sicherheit zu gewährleisten, wurden naheliegende Gräben, über die vom Hinterland Regenwasser der Schelde zufloss, ausgebaut und zu einem Ringgraben um die Stadterweiterung herum zusammengeschlossen. Die Antwerpener nannten derartige Wasserläufe "ruien". Nicht zu vergessen ist die Schelde mit ihrem Gezeitenhub. Die "ruien" wurden dadurch täglich rund zweimal geflutet und wieder entwässert.

 

 

 

 

Stadtentwicklung von Antwerpen im 14. Jahrhundert

Mit der Ausbreitung der Stadt kamen weitere Ruien und Umwallungen hinzu. Für alle Gewerbetreibenden in Stadthäusern, die an einer "rui" lagen, bot das Wasser auch eine einfache und willkommene Achse für den Warentransport. Das tägliche Trockenfallen war für die damalige Schiffahrt völlig normal und für den Warenumschlag kein Hindernis. Entsprechend dieser Nutzung für die Schiffahrt wurden die Ränder der "ruien" immer mehr zu Kais ausgebaut.

Die Kanäle dienten aber auch der Abfuhr des Regenwassers, und weil die Schelde mit ihrer Gezeitenbewegung sowieso alles wegschwemmte, wurden die "ruien" mehr und mehr auch als Kloake und Abfallentsorger verwendet. Der daraus entstehende Gestank blieb in den Gassen hängen und der immer feuchte Morast begünstigte die Ausbreitung von Krankheiten.

 

 

Die Stadt wuchs im 16. Jahrhundert immer stärker an und der Abfall wurde stets zum grösseren Problem. Die Stadtregierung verhängte Bussen. Wer seine Exkremente nicht in Fässern sammelte und der umliegenden Landwirtschaft als Dünger für die sandigen Böden zur Verfügung stellte, wurde mit 25 Gulden bestraft. Wer Abfall direkt in die "ruien" entsorgte, wurde mit 50 Gulden gebüsst. Aber die behördlichen Massnahmen hatten keine grosse Wirkung, weder auf den Gestank in den Gassen, noch in der Stadtkasse.

 

 

 

 

 

 

Deshalb wurden die Kanäle im 19. Jahrhundert überwölbt. Das war aber kein Aufwand für die Stadt. Denn über den tief liegenden Kanälen liessen sich zusätzliche Stadtwohnungen bauen. Die Käufer dieses Baugrundes mussten sich verpflichten, die in ihrem Grundstück gelegenen "ruien" zu überwölben. Dass damit die hausinterne Kloakenentsorgung gleich miteingebaut wurde, war nicht zu verhindern. Damit war auch klar, dass die "ruien" nicht mehr für den Warentransport auf Schiffen benutzt werden konnten. Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie deshalb offiziell zu Abwasserkanälen erklärt.

Damit war die Stadt ihre Probleme aber nicht los. Die Gezeitenbewegung holte mit ihrer Schwemmkraft nicht nur alle Abfälle und Exkremente aus den Ruien, sie verursachte bei Flut auch immer wieder Rückstau und Verstopfungen, die durch Kanalarbeiter entstopft werden mussten, zu Zeiten wo noch kein Lohnzuschlag wegen widrigen oder risikoreichen Arbeitsplatzverhältnissen für den Aufenthalt in den stinkigen Abflusskanälen bezahlt wurde.

Auch heute noch fliesst Abwasser der Stadt durch die unterirdischen Kanäle, aber es strömt durch Leitungen in eine Reinigungsanlage, bevor es in der Schelde landet. Über die Sohle der "ruien" fliesst nurmehr Sickerwasser aus Gärten und Parks im Stadtgebiet. Darum können seit 2005 die "ruien" in Gruppen unter kundiger Führung besucht und begangen werden.

 

 

Wir hatten uns via Internet angemeldet für eine Führung am 26. Januar 2013. Es war draussen beissend kalt und ein grimmiger Wind blies uns um die Ohren, als wir dem "Ruihuis" zu marschierten, wo die Führung begann. Es war wohl der beste Tag, um in den windfreien und stets erdwarmen Untergrund von Antwerpen abzutauchen.

Der mit wasserfester Kleidung bereits gut ausgerüstete "ruien"-Führer nahm unsere Gruppe beim Eingang zum "ruihuis" in Empfang, erklärte kurz den Ablauf und führte uns dann zur Ausrüstungsstelle im Keller. Dort konnten wir Taschenlampe, Stiefel, Overall und Schuhsack in Empfang nehmen und uns auf einem Garderobenbänkli einkleiden.

 

 

Der erste Kanalabschnitt wurde mit einem Boot zurückgelegt. Den Rest ging man zu Fuss. Unterwegs machte unser Führer immer wieder Halt und erklärte uns jeweils, unter welcher Strasse wir uns gerade befanden und wie die "ruien" entstanden waren.

 

ausgerüstet für die "ruien"-Führung

Unter dem Boden verliert man schnell die Orientierung, selbst wenn einzelne Strassenschilder Hinweise geben.

 

 

Wir lernten verschiedenen Arten von Überwölbungen kennen, sahen ab und zu einen Lüftungsschacht, der ganz weit oben den Blick auf den Himmel freigab, und konnten nicht erraten, weshalb unter der St. Carolus Borromäus-Kirche eine Treppe in die *ruien" hinabführte. Mit schelmischem Lächeln erklärte unser "ruien"-Führer, dass auf diesem Weg die Jesuiten sicherstellten, dass die Frauen im nahegelegenen Kloster nicht hungern mussten, wenn sie sich ohne Kontakt zur Aussenwelt ganz dem Gebet widmeten und allein von Gaben lebten, welche ihnen die Bürger vor die Türe legten.

 

 

Ratte im Kanalsystem

Wir sahen Ratten übers Gemäuer huschen und bestaunten die auf ihrem Kot gewachsenen Pilzfäden, die im Dunkeln kaum wahrzunehmen, im Fotolicht jedoch funkeln und glitzern, als wäre ein 1.August-Bärgli erstarrt.

Pilz, gewachsen auf Rattenkot

 

 

 

 

 

 

Nach über zwei Stunden in Antwerpens interessantem Untergrund kamen wir ganz in der Nähe unseres Hafens wieder ans Tageslicht und an die Kälte. Die Führung war jedoch noch nicht zu Ende, denn auf dem überirdischen Rückweg marschierten wir nochmals über die "ruien" hinweg und sahen die Schachtdeckel und die Lüftungskamine, nun aber von der anderen Seite.

Nach diesem Erlebnis hatten wir das Gefühl, von Antwerpen ein Geheimnis zu kennen, das wir jetzt an den Zeichen in der Aussenwelt orten konnten und von dem wir wussten, welch eigenartige Unterwelt sie andeutete.

Dann aber war es höchste Zeit für eine wärmende Suppe und ein heisses Tee, denn die Abendkälte war unerbittlich.

 

 

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 aktualisiert: 25.8.2013 / BG